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TAGESSPIEGEL

Der Fußball als Datenspender?

Wie Geisterspiele im Kampf gegen das Coronavirus helfen könnten

Die Kritik an den Plänen der DFL ist groß. Dabei kann der Fußball wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse über das Coronavirus liefern.

Ein Gastbeitrag von Fritz Sörgel


Ich bin kein Virologe und liebe Fußball. Darf ich mich trotzdem äußern? Immerhin: Fußball spielte ich seit dem siebten Lebensjahr, die höchste Gage pro Spiel waren damals fünf D-Mark, das hatte den Gegenwert eines Schweineschnitzels und eines halben Liters Radler. Ich bin Mitglied des 1.FC Nürnberg und besuche seine Heimspiele. Wir müssen mehr über das Coronavirus wissen, um es zu bekämpfen. Und das Schöne ist, dass uns der Fußball dabei helfen kann.

Das Gebaren der Profifußballvereine, ihre Selbsterhöhung, die obszönen Gehälter und die Arroganz, mit der sie sich auch in den letzten Wochen noch verteidigten, haben viele zu ziemlich unfreundlichen Kommentaren veranlasst. Mich auch. Doch erinnern wir uns: Noch zu Beginn der Coronavirus-Krise riefen viele eine Art Ideenwettbewerb aus, die Krise habe auch was Gutes, hieß es.

Die Deutsche Fußball-Liga (DFL) muss das ernst genommen haben und schlug „Geisterspiele“ vor, also Spiele ohne Zuschauer. Das ist mit einem sehr detaillierten Plan verbunden, wie man den Geist des Fußballspiels erhalten könne und seine wirtschaftliche Basis natürlich auch. Macht man sich frei davon, dass da ein sportlicher Wettkampf stattfindet, erfüllen diese Geisterspiele im Ansatz die Kriterien für eine wissenschaftliche Studie. Welche andere Einordnung soll man schon von einem Pharmakologen erwarten?

Teilnehmer an Studien werden von Studienleitern genau beobachtet, Zwischenfälle im Idealfall schnell entdeckt, und so dürfte es auch in der DFL-Studie sein. Etwa 1500 überwiegend junge Menschen – nur vier Spieler in der Bundesliga sind älter als 35 Jahre – treffen sich regelmäßig auf einem maximal 105 mal 68 Meter großen Rasenfeld und streiten 90 Minuten, manchmal auch ein bisschen länger, um einen Ball. Dabei berühren sie sich manchmal heftig, manchmal weniger heftig. Spielanalysen belegen, dass nur knapp zehn Minuten mit einem echten Infight einhergehen. Mannschaften, die weniger heftig zu Werke gehen, steigen am Saisonende oft ab.

Die Frage in dieser „Studie“ wäre nun, ob es an diesem Arbeitsplatz zu Infektionen mit dem Sars-CoV-2-Virus kommt. Nichts weiter, die Frage sollte einfach nur sauber wissenschaftlich geklärt werden. Manche glauben ja jetzt schon, die Antwort zu kennen. Die Wissenschaftswelt und Behörden müsste das längst interessieren, einen Studienvorschlag haben sie indes noch nicht vorgelegt. In vielen Fragen sagen die Regierung und ihre Behörden, man würde „auf Sicht fahren“. Doch  es braucht mehr als das, um dem Virus trotzen zu können. Aktuell aber gibt es viele kleine Studien, die keinen definierten Beginn, ein ungewisses Ende und keinen richtigen Versuchsplan haben.

Das Fehlen des Letzteren kritisieren ja auch die Gegner des Lockdowns, sie fragen etwa, wie sich die Beschulung von Schulkindern oder die Maskenpflicht auf die Infektionsrate auswirkt. Oder welche gesundheitlichen Schäden bei Patienten aufgetreten sind, weil elektive Operationen nur eingeschränkt durchgeführt wurden, und ob Menschen gestorben sind, weil sie aus Angst trotz Verdacht auf Myokardinfarkt nicht ins Krankenhaus gegangen sind. Helfen können in diesen Fragen nur breit angelegte Studien. Und die Bedingungen für eine breit angelegte Studie zur Verbreitung des Coronavirus könnte kaum besser sein als die womöglich in wenigen Wochen startenden Geisterspiele in der Fußball-Bundesliga.

Die Öffentlichkeit lehnt nun aber das DFL-Vorhaben zu 90 Prozent ab, Mannschaften auch dann nicht in Quarantäne zu schicken, wenn nur ein einziger Spieler positiv getestet wird. Die drei Fälle beim 1. FC Köln vom Freitagabend – zwei davon betreffen Spieler – stellen nun schon eine große Bewährungsprobe für die DFL dar. Schließlich, so das Argument, werde der Gang in die Quarantäne vom Robert-Koch-Institut (RKI) für den „Normalo“ empfohlen. Etwa 50 Prozent wollen allerdings Fußball im Free-TV wieder sehen, auch die Geisterspiele. Da wäre noch ein Widerspruch aufzulösen.

Großen Widerstand gibt es auch gegen Virus-Tests für die Geisterspieler, weil diese woanders fehlen könnten. Allerdings gibt es diesbezüglich Überkapazitäten, was mir Fachleute bestätigten. Weshalb ich kürzlich vorschlug, ähnlich wie bei den Intensivbetten, eine tägliche Statistik einzuführen und solche Überkapazitäten zu melden, die für jeden Käufer das Gleiche kosten. Dann wäre der Vorwurf vom Tisch, die DFL könnte als Krösus die Tests alleine einkaufen. Freilich müssten noch Vergaberichtlinien festgelegt werden. Passend dazu gab es jüngst die Meldung, dass vergangene Woche sage und schreibe 400 000 Tests ungenutzt geblieben
sein sollen. Unglaublich, wenn man weiß, wie wichtig diese PCR-Tests zur genauen Abschätzung der Infektionsrate sind.

Szenenwechsel nach Köln: Bei der „Let’s dance“-Show vonRTL wird seit Wochen getanzt, freitags vor laufender Kamera und ohne Publikum. „Geistertanz, eine Sars-CoV-2-Schleuder?“ wäre wohl der Titel dieser „Studie“. Von einem Mindestabstand von 1,5 Metern kann da keine Rede sein. Die Einschaltquote dieser Sendung von 4,37 Millionen Zuschauern lässt einen fragend zurück; hatte das RKI nicht in einer seiner ersten Empfehlungen gerade das Tanzen auf die Verbotsliste gesetzt? Gern gesehen wurde es vom Millionenpublikum offenbar trotzdem.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sorgt sich beim Fußball um die Kinder und Jugendlichen, weil die Geisterspiele ein schlechtes Vorbild sein könnten. Dies darf stark bezweifelt werden, da Kinder und Jugendliche ihre Stars anhimmeln, wie die in schwindelnden Höhen befindlichen Trikotverkäufe zeigen, und sich in erster Linie über die stattfindenden Spiele freuen würden.

Viele sprechen nun zu Recht davon, dass der Fußball seine Stellung in der Mitte der Gesellschaft längst verloren hat. Eine Rückkehr dorthin bietet sich gerade in der Krise an, wenn der Fußball seine Sonderrolle im Sport und im kulturellen Leben unseres Landes in Demut erkennt – eine Sonderrolle etwa in Form von der Durchführung von Studien, die dem Ganzen dienen. Als Geisterspiele konzipiert könnte daraus eine hoch spannende Studie erwachsen, die für viele Wissenschaftsdisziplinen lehrreich sein kann.

Wo gibt es eine Studie, die an 18 Spielplätzen über das Land verstreut je 300 Beteiligte und ihr direktes Umfeld so genau untersucht? Nicht mal für die Frontkämpfer in der Covid-Krise, das Krankenhauspersonal, gibt es das. Die Sportmedizin müsste geradezu entzückt sein, untersuchen zu dürfen, wie sich bei den Spielern so ein Fußballentzug, gefühlt so lange wie eine Sommerpause, aber ohne Sommertrainingslager, auf den „Neustart“ auswirkt. Wer verletzt sich, wer geht andere Wege im Spiel, wer hat Angst vor dem körperintensiven Zweikampf? Und das alles im Vergleich zu vorher, die Daten der Psychologen sind in den Vereinen vorhanden.

Bei der Frage, wozu der Fußballentzug im Volk geführt hat, gesellen sich Soziologen dazu und Philosophen – das bedeutet Hochkonjunktur für die Geisteswissenschaften. Zahlreiche junge Menschen könnten mit der Coronavirus-Krise das Thema für eine akademische Qualifikationsmöglichkeit bekommen, Professoren beschäftigen sich gerne mit dem Fußball. Und da ist es wieder, das Wort von der „Datenspende“, vom Robert-Koch-Institut im Zusammenhang mit der „Corona- App“ ins Spiel gebracht. Diese erbringt der Fußball auf seine Weise. Eine andere Datenspende des Fußballs habe ich mit einer jüngst vorgestellten Studienidee in die Diskussion eingebracht. Durch die Analyse des Antikörpergehalts von Blut von Stadionbesuchern könnten Rückschlüsse auf die Frage gezogen werden, in welchen Schritten man wieder Publikum zulassen kann. Die Mitte März geforderte Analyse, idealerweise zeitnah am letzten regulären Bundesligaspieltag plus zwei Wochen Inkubationszeit durchgeführt, ist leider sehr schwer geworden, aber weitere Chancen bestehen, sich dieser Frage mit guter Wissenschaft zu nähern.

Gute Wissenschaft heißt Verwendung zuverlässiger Antikörpertests. Weil diese zum Zeitpunkt des Vorschlags und auch heute nicht zur Verfügung stehen, sollten die Proben eingefroren und später gemessen werden. Schnellschüsse gab und gibt es schon genug. Ergebnisse aus einer die Geisterspiele begleitenden Studie könnten auch die Basis für weitere Untersuchungen in den Hallensportarten oder bei der Unterhaltungsindustrie sein.

Die Voraussetzungen für eine solche Studie hätte die Deutsche Fußball-Liga zweifellos. Die Vereine haben auf elektronischem
Wege Zugang zu den Mitgliedern, die an den Studien teilnehmen könnten. Und es ist natürlich auch die finanzielle Basis der DFL, die wohl als einzige Sportvermarktungsorganisation eine ausreichende Finanzierung für gute Wissenschaft gewährleisten könnte.

Die US-amerikanische Baseball-Liga hat kürzlich eine ähnliche Idee ins Spiel gebracht, nach der sie Antikörpertest für die Gesellschaft finanzieren würde, die bislang auch in den USA nicht ausreichend durchgeführt werden. Sie nennt das „Help Society“, ein klug gewähltes emotionales Motto, bei uns mit dem technisch-empathischen Begriff „Datenspende“ versehen.

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) als die größte globale Sportorganisation der Welt verlässt sich dagegen lieber auf die Strahlkraft der olympischen Flamme, die laut Thomas Bach „das Licht am Ende des dunklen Tunnels sein kann, in dem sich die Menschheit gegenwärtig befindet“. Aber ob die Symbolik reichen wird? Anders Christian Seifert, der Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga. Er ist ein Mann, der gewillt scheint, den wissenschaftlichen und damit auch gesellschaftlichen Nutzen des Fußballs einleiten zu wollen. Womöglich hat der Profifußball unter seiner Führung eine Chance verdient, wieder gemocht zu werden.

Quelle:  https://www.tagesspiegel.de/sport/der-fussball-als-datenspender-wie-geisterspiele-im-kampf-gegen-das-coronavirus-helfen-koennten/25796218.html (Stand: 14.05.2020)