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Antikörpertest: Bluten für den Fußball

Ein Mediziner hat eine Idee, wie Fußballspiele und Konzerte bald wieder vor Publikum stattfinden könnten. Dazu ist aber eine aufwendige Studie notwendig. Und zwar jetzt.

Von Oliver Fritsch


Zurzeit sind Maßnahmen gefragt, die das nackte Überleben sichern. Politiker und Medizinerinnen verwenden all ihre Energie darauf, das Leben einzuschränken, damit die Corona-Pandemie nicht zu viele Opfer fordert. Dafür ernten sie von sehr vielen Seiten großes Verständnis.

Aber irgendwann wollen die Leute wieder ins Stadion, Theater oder auf Musikfestivals. Und auf dieses Szenario sollte man vorbereitet sein, meint Fritz Sörgel. Der Professor für Pharmakologie, der für seine Arbeiten im Bereich der Antibiotika 2007 das Bundesverdienstkreuz erhielt, hat eine Idee, wie Fußballspiele und Konzerte bald wieder vor Publikum stattfinden könnten.

Damit das möglich sein wird, fordert er eine Studie, die die Ansteckungsgefahr von Fußballspielen misst. Mit diesen Daten ließen sich solche Entscheidungen in der Zukunft zuverlässig treffen. Der Fußball würde von dieser Studie profitieren, glaubt Sörgel. Aber nicht nur er, denn wahrscheinlich ließe sie sogar Rückschlüsse auf andere Publikumsereignisse wie Theatervorführungen, Lesungen, Musik- oder Sportveranstaltungen zu.

Für die Studie müsste man einigen Aufwand betreiben. Vor allem eilt es, jeder Tag zählt, denn die letzten Großveranstaltungen liegen drei Wochen zurück und neue wird es auf absehbare Zeit nicht geben. "Damit im Sommer oder Herbst entschieden werden kann, ob man wieder Publikum zulässt, und wenn ja, wie viel", sagt Sörgel, "muss jetzt gehandelt werden."

Explizit wendet sich Sörgel an die zwei großen Fußballverbände DFL und DFB. Sie haben die nötige Infrastruktur und das Geld. Sie sollen die Vereine die Studie initiieren lassen. Die verfügen nämlich über die Adressen ihrer Dauerkarteninhaber und vermutlich auch deren Loyalität. Die Leute sollen freiwillig mitmachen.

Tiefgekühlt lagern            

Sind Profifußballspiele wirklich Corona-Hotspots? Um diese Frage geht es und dieses Design schlägt Sörgel vor: Etwa fünf ausgewählte Vereine aus den höchsten drei deutschen Fußballligen müssten jeweils rund 1.000 Zuschauerinnen und Zuschauer ihres letzten Heimspiels (die vom 6. bis 10. März stattfanden) zum Antikörpertest bitten. Dabei wäre auf Diversität in Alter und Geschlecht zu achten, also nicht bloß die Ultras.

Zugleich testet man eine ähnlich große und repräsentative Vergleichsgruppe von Leuten aus der Region, die in letzter Zeit nicht in einem Stadion oder einem anderen Großevent waren. Das den Proben entnommene Plasma wird tiefgekühlt gelagert. Erst in ein paar Monaten führt man die Tests durch, nämlich dann, wenn gut validierte Antikörpertests ausreichend verfügbar sind, was im Mai der Fall sein dürfte. Die genaue Größe der Stichproben und Vorgehensweisen will Sörgel mit Experten festlegen, für die Durchführung der Studie hat er namhafte Kollegen und Institute im Sinn.

Der Einzelfall ist nicht entscheidend, sondern die Masse            

Nochmals, damit es nicht verwechselt wird: Es geht nicht darum, die Stadionbesucher mittels Abstrich auf eine aktive Corona-Infektion zu testen, sondern um Antikörpertests. Fallen sie positiv aus, ist das ein Zeichen dafür, dass ein Mensch die Infektion schon durchlaufen hat. Als Material für die Antikörpertests reicht meist ein Tropfen Blut aus der Fingerspitze. In etwa das, was ein Diabetiker mehrmals täglich macht. Medizinstudenten könnten sie entnehmen. Auch finanziell wäre es stemmbar, eine Antikörperteststudie mit 10.000 Probanden würde insgesamt wohl deutlich weniger als eine Million Euro kosten.

Womöglich wird man in den meisten Fällen nicht klären können, ob sich ein positiv Getesteter wirklich bei dem Fußballspiel angesteckt hat oder nicht doch drei Tage später bei seinem Nachbarn. Aber für Statistiker und ihre Modellierungen ist das gar nicht wichtig. Sie interessiert die Masse. Erkenntnisse über Einzelfälle wären allenfalls erfreuliche Nebenprodukte.

Außerdem gelten in Deutschland seit Wochen Kontaktverbote, an die sich die meisten Menschen halten. So viele andere Gelegenheiten, sich zu infizieren, hat es daher nicht gegeben. "So besteht die Chance", sagt Sörgel, "dass wir trotz verspäteten Testens noch ein zeitnahes Bild zum Stadionbesuch bekommen."

Leipzig gegen Tottenham war wohl kein Hotspot

Ulrike Protzer, Virologin von der Universität München, schreibt auf Anfrage von ZEIT ONLINE, sie halte Sörgels Vorschlag "prinzipiell für eine gute Idee". Und Christoph Lübbert, Leiter des Bereichs Infektions- und Tropenmedizin am Uni-Klinikum Leipzig, sagt: "Auf diese Art herauszufinden, wie infektiös Veranstaltungen unter freiem Himmel sind, ist interessant und methodisch auf jeden Fall plausibel." Er würde eine solche Durchführung in Leipzig begrüßen. "Nicht zuletzt ist dies auch ein guter Ansatz, um die Durchseuchung der Bevölkerung und den Aufbau einer Immunität zu messen."                                             

Von den Erkenntnissen könnte also auch die Allgemeinheit profitieren. So forderte das Robert Koch-Institut in dieser Woche groß angelegte Stichproben, um die Dunkelziffer der Corona-Infizierten zu erhellen. Auch der Virologe Hendrik Streeck, der den Corona-Ausbruch in Heinsberg untersucht, geht ähnlich vor.

Fußball soll bald wieder stattfinden. Aktuell plant die DFL für Mai Geisterspiele, doch ein paar Monate später stellt sich womöglich die Frage, ob man wieder 3.000 Leute in die Stadien lässt, vielleicht auch 10.000 oder 20.000, je nach Größe und Beschaffenheit. Dann müssten die Vereine Abstandsregeln entwerfen und Einschränkungen bei der Anreise durchführen.

"Das wäre immer noch besser als Spiele ohne Zuschauer, für den Fußball und für die Leute", sagt Sörgel. Hinzu dürften Überlegungen kommen, für Menschen, die in einem Haushalt zusammenleben, die Regeln aufzuheben. Vielleicht öffnet man auch einen Block für Immune, also ehemalige und inzwischen wieder gesundete Corona-Infizierte. "Über solche Nadelöhre wird man nachdenken müssen, da ist Kreativität gefragt."

Die DFL sollte sich diese Chance nicht nehmen lassen, sagt Sörgel, "selbst wenn bei der Studie herauskommen sollte, dass man sich bei Fußballspielen sehr leicht infizieren kann, würde der Fußball von ihr profitieren". Denn er hätte wenigstens eine Datenbasis. Ohne diese dürften Virologen im Zweifel zur Vorsicht raten, vielleicht zur Übervorsicht. Mit Daten hingegen könne man ein Risiko besser kalkulieren.

"Wie groß ist eigentlich der Hotspot Fußballstadion und wo sind die Daten im Vergleich mit anderen Ansammlungen von Menschen", fragt Sörgel und verweist auf die Champions-League-Partie Bergamo gegen Valencia am 18. Februar, das viel beschriebene, angebliche "Spiel Null". Inzwischen verfolgt man in der Virologie tatsächlich eher die Hypothese, dass das Virus bereits lange vorher in Norditalien kursierte und es sich bei dem Spiel um einen Extremfall handelte, der nicht wieder vorkommen dürfte.

Das letzte Spiel, das in Deutschland vor Publikum (42.000 Zuschauern) stattfand, war RB Leipzig gegen Tottenham am 10. März. "In Leipzig, einer Stadt mit 600.000 Einwohnern, zählen wir aktuell am 2. April nur 361 bestätigte Covid-19-Fälle", sagt Lübbert. "Das spricht nicht dafür, dass das Spiel ein Hotspot war." Ein Test würde helfen, die Zusammenhänge genauer zu verstehen.

"Das Experiment lässt sich nicht verschieben"

Bluten für den Fußball – das ist Sörgels Motto. Der renommierte Dopingexperte besucht oft die Heimspiele des 1. FC Nürnberg und ist regelmäßiger Teilnehmer des Stammtischs der Meisterspieler von 1968, denen er bei Bedarf medizinische Ratschläge gibt. Leidenschaftlicher Fan ist er von Paul Ehrlich, dem Nobelpreisträger der Medizin und Bezwinger der Syphilis. Auf dem Kennzeichen seines Autos stehen dessen Initialen PE und die Labornummer des Syphilismittels 606.

Es müsse Ziel der Politik und der Virologie sein, sagt Sörgel, stufenweise Normalität wiederherzustellen. "Wenn man den Leuten ein Jahr lang verbietet, auf Konzerte zu gehen, sollte man das mit Daten belegen können. Auch wir Mediziner sollten uns fragen: Wie kriegen wir in den Griff, dass das Volk nicht durchdreht?"

Natürlich sei er ein Befürworter der gegenwärtigen radikalen Maßnahmen, sagt Sörgel, der zurzeit Kliniken mit Covid-19-Patientinnen und -Patienten sein Labor zur Verfügung stellt, um erkennen zu können, ob die heute als letzte Hoffnung eingesetzten Arzneimittel tatsächlich wirken und, falls nicht, wenigstens keine Nebenwirkungen verursachen. "Jetzt müssen alle zu Hause bleiben. Doch irgendwann müssen wir wieder raus." Und auf den Zeitdruck weist er mit Nachdruck hin: "Das Experiment lässt sich nicht verschieben, es wird auf lange Zeit nicht machbar sein."


Quelle:  https://www.zeit.de/sport/2020-04/antikoerpertest-coronavirus-stichprobe-fussballspiele-konzerte-veranstaltungen-fritz-soergel (Stand: 14.05.2020)